In der digitalen Welt reicht es längst nicht mehr, einfach nur recht zu haben. Wer heute Reichweite erzielen will, braucht Emotion, Dramatik – und manchmal einen Hauch von Übertreibung. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf ein Phänomen, das sich immer häufiger zeigt: Viral erzählte Geschichten, die technisch gesehen wahr sind, aber trotzdem manipulieren. Willkommen in der Grauzone zwischen Fakt und Fiktion.
Die Wahrheit ist nicht das Ziel
Virale Posts wollen nicht informieren. Sie wollen funktionieren. Was bedeutet: Sie sollen Emotionen wecken, geteilt werden, Klicks erzeugen. Die Wahrheit wird dabei oft nur als grober Rahmen genutzt – der Rest ist Narrativoptimierung.
Ein klassisches Beispiel ist der vielgeteilte Text über Nona Gaprindashvili, die erste Frau mit dem Großmeistertitel im Schach. Fast alles daran ist korrekt. Aber einige Schlüsselstellen sind so formuliert, dass sie größer, heldenhafter, dramatischer wirken, als die belegbaren Fakten es hergeben. Warum?
Die BBC berichtete 2021 über die Klage von Gaprindashvili gegen Netflix, weil in The Queen’s Gambit behauptet wurde, sie habe „nie gegen Männer gespielt“ – obwohl sie genau das getan hatte (BBC, New York Times).
Wahrheit oder Manipulation?
Folgender Beitrag wird in sozialen Netzwerken gerne geteilt:
In einer Zeit, in der Frauen an den Spitzenbrettern kaum zu sehen waren, schrieb Nona Gaprindashvili Geschichte – Zug für Zug.
Geboren im sowjetischen Georgien, wurde sie 1962 die erste Frau überhaupt, die den Titel eines Internationalen Großmeisters errang. Doch Nona spielte nicht nur Schach – sie eroberte es.
In einer legendären Ausstellungspartie trat sie gleichzeitig gegen 59 männliche Spieler an, darunter 28 Großmeister – und besiegte sie alle.
Sie gewann fünf aufeinanderfolgende Frauen-Weltmeisterschaften, ein bis heute ungebrochener Rekord, und spielte noch weit in ihre 70er hinein. Mit 79 Jahren verhalf sie ihrem Team bei der Senioren-Weltmeisterschaft zu Gold.
Dann, im Jahr 2020, behauptete Netflix in The Queen’s Gambit abschätzig, Nona habe „nie gegen Männer gespielt“. Mit 80 Jahren verklagte sie Netflix auf 5 Millionen Dollar – und gewann. Nicht nur für sich selbst, sondern für die Wahrheit.
Nonas Geschichte ist keine Fiktion. Sie ist stärker, lauter und weitaus inspirierender.
Sie soll uns daran erinnern: Legenden muss man nicht immer erfinden. Manchmal sind es echte Frauen, die sich weigerten, aus der Geschichte gestrichen zu werden.
Warum aus „wahr“ oft „wirksam“ wird
1. Emotion statt Evidenz
Ein Satz wie: „Sie besiegte 28 Großmeister gleichzeitig“ klingt spektakulär, lässt sich aber kaum belegen. Die reale Leistung (Schach gegen viele Männer, darunter Starke) wird durch eine Zahl ersetzt, die niemand sofort nachprüfen kann. Die Botschaft bleibt: „Sie war eine Heldin.“
2. Narrativ statt Nuance
Komplexe Geschichten lassen sich schlecht in einem Sharepic erzählen. Also werden sie vereinfacht: Gut gegen Böse, David gegen Goliath, Wahrheit gegen Netflix. Alles, was nicht in dieses Muster passt, wird weggelassen.
3. Zustimmung statt Prüfung
Wenn ein Post unsere Weltanschauung bestätigt (z. B. „Frauen müssen ständig um Anerkennung kämpfen“), sind wir viel weniger kritisch. Dieses Prinzip nennt sich Confirmation Bias (Psychology Today) und wird in solchen Texten gezielt ausgenutzt.

Manipulation ohne Lüge?
Das Tückische: Solche Posts lügen nicht direkt. Sie lassen nur weg, überhöhen Zahlen, lassen kleine Ungenauigkeiten groß wirken oder benutzen Formulierungen, die absichtlich vage bleiben:
„Sie gewann den Prozess gegen Netflix und erhielt 5 Millionen Dollar.“
Klingt wie ein Gerichtssieg mit Schadensersatz. Tatsächlich war es ein Vergleich – Summe unbekannt. Aber der Satz ist schwer angreifbar, weil er sich auf die Klage und die Forderung bezieht. Semantische Grauzonen als Manipulationswerkzeug. Solche Mechanismen fallen unter die Kategorie „Post-Truth“ – einem Begriff, den das Oxford Internet Institute ausführlich beschreibt (OII).
Warum das gefährlich ist
Wenn selbst wahre Geschichten dramatisiert werden, sinkt unser Vertrauen in Fakten. Es entsteht der Eindruck, alles sei PR. Und schlimmer noch: Wenn jede Nachricht wie ein Film klingt, ist es für Desinformation viel leichter, sich zu tarnen – was First Draft News eindrücklich erklärt (First Draft).
Was du dagegen tun kannst
- Frage dich bei starken Behauptungen: Kann ich das belegen? Gibt es Quellen?
- Achte auf „zu schön, um wahr zu sein“-Muster
- Unterscheide zwischen Heldengeschichte und Dokumentation
- Nutze Tools wie FactCheck.org oder Snopes für virale Geschichten
Fazit: Wahrheit braucht keine Effekte
Nona Gaprindashvili war eine Pionierin. Sie hat gegen Männer gespielt. Und sie hat sich gegen Netflix gewehrt. Dafür braucht man keine übertriebenen Zahlen oder dramatischen Halbwahrheiten. Die echte Geschichte ist stark genug.
Wer wirklich etwas ändern will, sollte nicht nur nach Aufmerksamkeit streben, sondern nach Aufklärung. Denn wahre Geschichten sind es wert, ehrlich erzählt zu werden.
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